Interview aus dem Jahr 2004
Ich frage, also bin ich ein Mensch. Soll das heißen, dass nur der Mensch Fragen stellen kann?
Ja.
Und deswegen ist der Mensch ein Mensch? So einfach ist das?
Ja.
Aber der Mensch kann doch als einziges Säugetier auch aufrecht gehen. Man könnte sagen, der Mensch ist Mensch, weil er aufrecht geht.
Der aufrechte Gang ist eine Folge der Fähigkeit zur Frage. Die Fähigkeit zur Frage ist die letztliche Ursache – ich nenne es Kerndifferenz – die für die typisch menschlichen Eigenschaften verantwortlich ist.
Wollen Sie sagen, dass die Wesensart Mensch sich durch die Fähigkeit zur Frage evolutionär abspaltete?
Ja, wenn man den Gedanken konsequent zu Ende denkt, dann kann man diese These mit gutem Gewissen vertreten.
Was passiert in Stanley Kubricks Film „Odyssee im Weltraum – 2001″ nachdem der Affe den Monolithen berührt?
Kubrick wollte wohl mit der Berührung des Monolithen den Aufbruch der Menschheit symbolisieren. Der Film zeigt ja dann den berühmten Filmschnitt von der primitiven Keule zum Raumschiff. Man kann es nun so interpretieren, dass die Evolution die Frage in der Kommunikation zugelassen hat und damit die technische und kulturelle Entwicklung des Menschen. Jede technische Entwicklung basiert auf der Beantwortung von Fragen. Bei einem Raumschiff sind es Millionen von Fragen, die beantwortet werden mussten. Bei der primitiven Keule war es der erste bewusste Zweifel.
Aber die Frage ist doch gekoppelt an die Sprache. Ein Zweifel ist doch keine Frage.
Wir denken nur, dass die Frage ohne Sprache nicht möglich ist. Der Zweifel, ob nicht etwas anderes mit einem herumliegenden Knochen anzufangen ist, ist ein „in Frage stellen“ meines Handelns. Auch kann ich mit reinen Lauten wie „mmh“ – wobei die Tonhöhe am Ende ansteigt – meinen Zweifel ausdrücken. Die menschliche Sprache ist ebenfalls eine Folge der Fähigkeit zur Frage und nicht umgekehrt.
Ich möchte noch einmal auf die Tiere zu sprechen kommen. Die unterhalten sich ja auch mit Lauten. Wie können Sie behaupten, dass sie nicht auch fragen?
Wenn sie die Fähigkeit zur Frage besäßen, dann wäre die Kommunikation zwischen den Tieren ähnlich komplex als bei uns Menschen.
Was ist bei den Tieren anders?
Tiere kommunizieren ausschließlich über Signale.
Aber was ist mit den sprechenden Papageien?
Auch sie geben nur gelernte Signale von sich.
Können Sie das noch genauer erläutern?
Ja, in der Kommunikationstheorie spricht man von Codierung der Sprache. Die menschliche Sprache ist zweiwertig codiert. Auf jede positive Äußerung wie „Das Wetter ist schön“ kann mit Zweifel, also im negativen Sinne geantwortet werden, wie „Gestern war es aber noch schöner“. Man benutzt auch den Begriff Ja/Nein-Codierung. Die Tiere hingegen – und das ist jetzt meine Idee – besitzen nur eine einwertige Codierung in ihrer Sprache.
Ist deshalb auch der Umgang mit meinem Hund eher unkompliziert und im Gegensatz dazu von Mensch zu Mensch oft so schwierig?
Die Ja/Nein-Codierung macht uns Menschen das Leben oft sehr schwer. Andererseits ist gerade hier die Triebfeder jeglicher menschlicher Entwicklung. Denn Streit und Disput sind meistens fruchtbar. Der Konflikt treibt uns an, nicht der Konsens. Aber auch Unterdrückung und Missstände können durch das Stellen von Fragen beseitigt werden. Autoritäre Systeme sind damit beschäftigt, jegliche Fragen zu unterbinden. „Wir sind das Volk“ ist zwar keine direkte Frage, aber dahinter stehen bohrende Fragen, die schließlich die Wiedervereinigung in Deutschland möglich machten.
Sie benutzen ja auch das Ausrufezeichen als das Symbol der Tierwelt und des Fragezeichen als das Symbol der menschlichen Kommunikation. Wollen Sie sagen, dass unsere Kommunikation eigentlich eine fragende Kommunikation ist?
Ja, jeder ausgesprochene Satz basiert wie jede technische Entwicklung auf die Beantwortung zuvor gestellter Fragen. So auch der Satz „Wir sind das Volk“. Es gibt keinen Aussagesatz ohne vorherige Beantwortung von Fragen.
Demokratie ist mit Meinungsvielfalt verbunden. Dann müsste diese Staatsform ja die menschlichste aller Staatsformen sein.
Ja, das sehe ich genauso. Die Demokratie will die Frage nicht verhindern, sondern definiert sich eben durch die Frage. Autoritäre Systeme tun alles, um die Frage zu verhindern.
Ich habe den Eindruck, dass sich Tiere nicht systematisch gegen „Unterdrückung“ wie z.B. Käfighaltung zur Wehr setzen. Liegt das an der Unfähigkeit zur Frage?
Ja, gewiss. Tiere gehen im Rahmen der gegebenen Umweltbedingungen ohne Irritation ihren Weg. Wenn die Umweltbedingungen es nicht anders zulassen, dann fristen sie ihr Dasein in einem engen Käfig.
Gibt das nicht zu denken?
Wenn Tiere Fragen stellen könnten, würde uns die Frage: „Warum tut ihr uns das an“ laut in den Ohren schallen. Aber sie können es nicht und werden es nie tun.
Warum sind sie so sicher, dass sie es niemals tun werden?
Weil die Fähigkeit zur Frage eine Verstandeskategorie ist, die nicht erlernt werden kann. Jedes Bemühen, Tieren die menschliche Sprache zu vermitteln, ist fehlgeschlagen. Aber jedes Menschenkind trägt diese Fähigkeit von vornherein in sich.
Was verstehen Sie unter Verstandeskategorie? Sitzt Ihrer Meinung nach die Fähigkeit zur Frage im menschlichen Verstand?
Ja, so kann man es sagen. Verstandeskategorie ist ein Begriff, der von Immanuel Kant verwendet wurde. Es bezeichnet damit den aktiv gestaltenden Teil der menschlichen Erkenntnis. Raum und Zeit sind unbestrittene Kategorien, die Mensch und Tier benötigen, um sich in ihrer Umwelt zu orientieren. Wenn ich ein Glas Wasser greifen will, muss ich wissen, wo es steht. Und wenn ich es versetze, dann muss ich die zeitliche Abfolge erkennen. Der passive Teil sind all unsere Sinneseindrücke, die eben von unserem Verstand zu einem Weltbild geformt werden. Neben den Kategorien Raum und Zeit hat Kant 12 weitere Kategorien angenommen. Eine davon ist die Negation. Hier setzt meine Theorie an. Ich sehe die Negation als rein menschliche Kategorie zur Formung des Weltbildes.
Negation kann man – wie sie sagen – auch mit dem systemtheoretischen Begriff der „Ja/Nein-Codierung“ erklären.
Genau, die Verstandeskategorie „Negation“ bricht die Symmetrie des Weltbildes auf. Die Folge ist die zweiwertige Ja/Nein-Codierung in der Kommunikation und die Fähigkeit zur Frage.
Dadurch sehen wir die Welt anders, als Tiere es tun?
Ja, denn die Welt wird von unserem aktiven Verstand konstruiert.
Nochmals zurück zu den Tieren. Wenn mein Hund mich um Futter anbettelt, dann fragt er doch.
Nein, er fragt nicht. Er sagt im übertragenden Sinn: „Gib mir Futter“. Das funktioniert ohne Frage.
Aber Tiere sind doch irgendwie intelligent und uns auch überlegen.
Dass Tiere uns in mancher Hinsicht überlegen sind, weiß jeder spätestens dann, wenn er einem Tiger in freier Wildbahn gegenüber steht. Das betrifft aber ausschließlich die sensorischen Fähigkeiten. Sie operieren kognitiv mit Wenn-Dann-Entscheidungen auf der Basis von Versuch und Irrtum. Sie können sich an Situationen erinnern und somit vorteilhaftes Handeln erlernen. Das alles geschieht aber nicht auf Basis der Frage. Das ist der große Unterschied.
Als Eva vom Baum der Erkenntnis genascht hat, hat sie da die Fähigkeit zur Frage vermittelt bekommen?
Die Vertreibung aus dem Paradies kann gleichnisartig mit der Erlangung der Fähigkeit zur Frage in Verbindung gebracht werden. Wenn wir einmal in Kommunikation oder noch besser in Fragen verwickelt sind, dann können wir nie wieder in das Paradies der einfachen Seelen zurückkehren. Das hat der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann gesagt. Tiere und Kinder leben sozusagen im Paradies der einfachen Seelen. Was nicht heißt, dass die Umweltbedingungen ihnen schwer zusetzen können. Aber wenn diese stimmen, dann leben Tiere und Kinder freier als wir in Kommunikation verstrickten Menschen.
Sie haben auch gesagt, dass die Schöpfung oder Gott uns keine Antworten gibt, sondern die Fähigkeit zur Frage als Werkzeug des Verstandes, um die Rätsel dieser Welt zu lösen.
Ja, richtig. Gott hätte uns ja auch Antworten geben können. Stattdessen müssen wir lauter Rätsel lösen, um der Welt ihre Geheimnisse zu entlocken. Aber es ist trotzdem ein gravierendes und evolutionär einzigartiges Phänomen, Fragen stellen zu können. Falls es einen Schöpfer X gibt, dann hat X mit der Zulassung der Frage auch die Frage nach X selbst ermöglicht.
Der Schöpfer spielt mit uns ein Spiel?
Wer weiß. Jedes Rätsel nimmt uns gefangen, weil wir fragende Geschöpfe sind.